Bild vom Campus und Gebäuden der TU Dortmund bei Sonnenaufgang
© Roland Baege​/​TU Dortmund

Inklusion und Vielfalt in Erasmus+

Chancengerechte Mobilitäten – am Beispiel der TU Dortmund
Artikel aktualisiert am 09.05.2023
Lesezeit: 16 min

Die neue Programmgeneration von Erasmus+ hat in Deutschland zu einer Erweiterung der Personenkreise geführt, die Anspruch auf gesonderte Unterstützung zur Durchführung eines Auslandsaufenthalts haben. Damit ergeben sich neue Aufgaben, Herausforderungen, aber ebenso Chancen für Hochschulen.

Was bedeutet das für ihre tägliche Arbeit? Welche Schritte und Maßnahmen sind notwendig, um die Zielgruppen zu erreichen? Und was ist zu bedenken? Auf der Suche nach Anregungen und Inspirationen an der TU Dortmund.

Gute Nachrichten

«Es ist und bleibt spannend. Und das sage ich nach 20 Jahren im Referat Internationales und genauso vielen Jahren Arbeit mit Erasmus», stellt Silke Viol mit einem Lächeln fest, als sie uns an diesem Dienstagvormittag in ihrem Büro im 2. Stock des Gebäudes der Zentralen Studienberatung am Campus Nord der TU Dortmund begrüßt. Gerade habe sie noch, erzählt die Erasmus+ Hochschulkoordinatorin und stellvertretende Leiterin des Referats, mit ihrer Kollegin Laura Hope gesprochen, die im Referat unter anderem für die Beratung zu Auslandsaufenthalten verantwortlich ist. «Wir haben in diesem Jahr den höchsten Stand an Mobilitätszahlen seit der erstmaligen Programmteilnahme 1987 erreicht. Vor allem im Bereich der Studierendenmobilität für Auslandsstudium und Auslandspraktikum können wir eine jährliche, kontinuierliche Steigerung verzeichnen.

Gesteigerte Attraktivität als Mittel und Zweck

Was sind die Gründe für den Erfolg, fragen wir sie. Silke Viol, selbst Erstakademikerin mit Auslandsaufenthalten während ihres Studiums, muss nicht lange überlegen. Über die Jahre, so sagt sie, seien innerhalb des Referats Internationales, aber ebenfalls an der TU insgesamt belastbare Informations- und Beratungsstrukturen aufgebaut worden. Sie seien die Voraussetzung dafür, dass hervorragende Betreuung von Outgoings und Incomings auf allen Ebenen geleistet werden könne. 

«Wir haben früh verstanden, dass wir uns intensiv um die Incoming-Austauschstudierenden kümmern müssen, um attraktive Austauschplätze studiengebührenfrei für Dortmunder Studierende an unseren Partneruniversitäten schaffen zu können», erläutert Viol. «Als Ruhrgebietsuniversität müssen wir uns besonders anstrengen, um für Incomings attraktiv zu sein, da im Ausland häufig andere, größere Städte bekannter sind.» Gleichzeitig stammten viele der Studierenden aus nicht akademischem Haushalt, womit die Erwerbstätigkeit während des Studiums oftmals einhergehe, erläutert sie. «Somit ist die Studiengebührenfreiheit für unsere Studierenden enorm wichtig, um im Ausland studieren zu können.»

Einflüsse und Vorbildwirkungen, auch jenseits des Atlantiks

Ein wichtiger Impuls für diesen serviceorientierten Ansatz ging vom USA-Programm der TU Dortmund aus, fügt sie erklärend hinzu. «Wir haben es hier mit Studierenden zu tun, die Tausende von US-Dollar Studiengebühren an ihrer Heimatuniversität zahlen, um ein Semester in Dortmund zu studieren. Diese Studierenden haben gewisse Erwartungen. Und diese Erwartungen wollten wir auf jeden Fall erfüllen, da wir mit diesen Incomings gleichzeitig attraktive – nämlich studiengebührenfreie – Austauschtauschplätze für Dortmunder Studierende generieren können. Den dabei entwickelten Servicegedanken, die Berücksichtigung individueller Bedürfnisse, haben wir in das Erasmus+ Programm hineingetragen.»

Umfassende Unterstützung für Studierende mit Behinderung

Gemeinsam machen wir uns auf den Weg zu einer jener Einrichtungen, mit denen das Referat Internationales eng zusammenarbeitet: dem Bereich «Behinderung und Studium» im Zentrum für Hochschulbildung. Die Anfänge der besser unter der Abkürzung «DoBuS» bekannten Einrichtung reichen bis Ende der 1970er-Jahre zurück, als feste Beratungsstelle besteht sie seit 2001. DoBuS berät gezielt Dortmunder Studierende und Lehrende mit Behinderung oder chronischen Krankheiten, unter anderem zu einem geplanten Auslandsaufenthalt. Das betrifft beispielsweise Fragen zur Ermittlung des zusätzlichen Bedarfs und der Kosteneinschätzung für einen Realkostenantrag im Rahmen von Erasmus+. DoBuS bietet aber auch Dienstleistungen an. Gemeinsam mit der Universitätsbibliothek setzt es Studienmaterialien, Klausuren und Lehrbücher für sehbeeinträchtigte Studierende in barrierefreie Medienformen um und untertitelt für Studierende mit Hörbeeinträchtigung im Bedarfsfall Lehrvideos.

Die Leitung von DoBuS liegt seit 2019 bei Dr. Carsten Bender, einem promovierten Rehabilitationswissenschaftler und, wie Silke Viol auf dem kurzen Weg erzählt, Erasmus-Alumnus. «Carsten Bender war 2006 einer der ersten Studierenden, die ich persönlich zur Sonderförderung für Menschen mit Behinderung beraten habe. Im gleichen Jahr ist er dann für ein Semester nach Joensuu in Ostfinnland gegangen. Zu dem Zeitpunkt konnte er immer schlechter sehen. Heute ist er blind – und leitet eine zentrale Einrichtung an unserer Universität. Für mich ist das eine Erasmus-Erfolgsgeschichte.»

DoBuS liegt auf dem Campus Nord, nur wenige Gehminuten entfernt von der Zentralen Studienberatung. Das Gelände wurde in den 1970ern im Zuge der Erweiterung der damaligen Universität Dortmund mit großzügigen Grünflächen errichtet wurde. Die meisten Fakultäten sowie die Universitätsbibliothek und die Mensa befinden sich hier. Auffallend sind die Maßnahmen zur Sicherung der baulichen Barrierefreiheit – Rampen für Rollstuhlfahrerinnen und -fahrer sowie Blindenleitsysteme für sehbeeinträchtigte Personen sind überall. Sie sind der sichtbare Teil der umfassenden Barrierefreiheit. Sie erstreckt sich auf die Hochschullehre, die Digitalisierung sowie Verwaltungsprozesse und schließt soziale sowie ökonomische Aspekte ein. Die TU Dortmund stellt für sich den Anspruch, eine «Hochschule für Alle» zu sein.

Einschätzungen aus erster Hand

Dr. Carsten Bender selbst hat ausgesprochen positive Erinnerungen an Erasmus; das macht er auf unsere Nachfrage hin deutlich. In Dortmund sei er sehr gut unterstützt worden – vom Referat Internationales und von DoBuS –, ebenso in Joensuu, beispielsweise bei der Suche nach einem Platz im Studierendenwohnheim oder mit technischen Hilfsmitteln, erklärt er. Grundsätzlich, so stellt Carsten Bender fest, sei der Auslandsaufenthalt nur dank der Zusatzförderung möglich gewesen. «Nur deswegen hatte ich eine Trainerin, mit der ich in Finnland ein Mobilitätstraining in der Stadt und an der Hochschule machen konnte. Und nur deswegen stand mir auch während der Zeit in Finnland eine Studienassistenz zur Seite.»

Und was hat der Aufenthalt gebracht, fragen wir ihn. «Ich bin auf jeden Fall mit deutlich mehr Selbstbewusstsein zurückgekommen», betont Bender. «Ich hatte danach mehr Vertrauen in meine eigenen Fähigkeiten, war bestärkt in dem Gefühl, neue Herausforderungen annehmen zu können, und das trotz meiner starken Sehbeeinträchtigung und späteren Blindheit.» Deshalb könne er nur zu diesem Schritt ins Ausland raten, schon weil seit seiner Zeit die Unterstützungsmöglichkeiten im Rahmen von Erasmus noch besser geworden seien. Er erinnert diesbezüglich vor allem an die Möglichkeit eines Realkostenantrags. Dadurch ergäben sich neue Optionen, die es wahrzunehmen gelte.

2.	Ein sehbehinderter Mann mit einem Blindenstock tritt aus einem Gebäude der TU Dortmund; er nutzt zur Orientierung das taktile Leitsystem auf dem Boden, das an vielen Stellen der TU vorhanden ist.
© Eric Lichtenscheidt/NA DAAD

Ein taktiles Leitsystem führt von Gebäude zu Gebäude. Es ist ein wesentlicher Baustein der TU Dortmund im preisgekrönten Konzept zur Inklusion von jungen Menschen mit Behinderungen, Beeinträchtigungen oder chronischen Erkrankungen.

Was sollte noch getan werden?

Nachbesserungsbedarf und eine Weiterentwicklung bestimmter Angebote, gibt es die aus seiner Sicht ebenfalls, wollen wir noch abschließend wissen. Ja, meint Carsten Bender, besonders bei nicht sichtbaren Beeinträchtigungen. Wie kann man beispielsweise Menschen mit Angststörung oder Depression eine Auslandserfahrung ermöglichen? Wie können sie begleitet werden? Hier gelte es, Anspruchsberechtigungen zu schaffen und nach flexiblen Lösungen zu suchen. Die Bedarfe seien schlicht anders als bei Menschen mit motorischer, visueller oder auditiver Beeinträchtigung.

Ein Blick auf Studierende mit Kind(ern)

«Das Elterncafé müsste gerade zu Ende gegangen sein», sagt Silke Viol, nachdem wir von uns Carsten Bender verabschiedet haben. «Lassen sie uns noch zu Jeannette Kratz gehen. Sie ist seit vielen Jahren in der Stabsstelle Chancengleichheit, Familie und Vielfalt für den Bereich ‹Familiengerechte Hochschule› verantwortlich. Frau Kratz ist eine wichtige Partnerin unseres Referats. Vor allem kann Sie Ihnen etwas zu den Herausforderungen erzählen kann, denen sich Studierende mit Kind gegenübersehen, ganz grundsätzlich, aber auch bezüglich einer Auslandsmobilität. Sie kann Ihnen eine Einschätzung zu den neuen Fördermöglichkeiten für diese bislang wenig mobile Zielgruppe geben.» 

Das Bild zeigt einen markanten roten Bau, in dem das Internationale Begegnungszentrum (IBZ) der TU Dortmund untergebracht ist; es grenzt unmittelbar an das Gebäude der Zentralen Studienberatung.
© cleevesmedia

Das Internationale Begegnungszentrum (IBZ) der TU Dortmund grenzt unmittelbar an das Gebäude der Zentralen Studienberatung. Der markante rote Bau dient allen Fakultäten der Hochschule für Veranstaltungen im internationalen Kontext.

Eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung

Wir treffen Jeannette Kratz in dem Raum, in dem eben noch das Elterncafé stattgefunden hat, eine einmal im Monat angebotene Möglichkeit zum Treffen von Eltern, um in einer entspannten Atmosphäre beispielsweise Tipps zur Vereinbarkeit von Familie mit Studium, Forschung oder Beruf auszutauschen. Uns interessiert, was sie insbesondere über die neue Realkostenförderung für Studierende mit Kind(ern) beziehungsweise die Aufstockungsbeträge für Studierende aus einem nicht akademischen Elternhaus denkt.* Alles wichtig, alles richtig, sagt sie. Vielleicht können wir dadurch auch Studierende mit einem oder gar mehreren Kindern über Erasmus+ ins Ausland schicken, sei es zum Studium oder für ein Praktikum. Sie werde auf jeden Fall, so wie bislang, Unterstützung anbieten. 

«Leider hatten wir bisher nur wenige Studierende mit Kind, die einen Auslandsaufenthalt in Erwägung zogen», fügt sie hinzu. Die Gesamtsituation dieser Studierenden sei oft nicht einfach. Wenn sie zudem aus einem nicht akademischen Haushalt kommen oder es ihnen an finanziellem Rückhalt beispielsweise ihrer Familie fehlt, dann wird ein Auslandsaufenthalt oft nicht einmal angedacht. «Ein Auslandsstudium erscheint ihnen als Luxus».

Mehr Informationen und bessere Zusammenarbeit

Was müsste passieren, damit sich daran etwas ändert? Die Bedingungen für ein Studium mit Kind(ern) müssten in Deutschland insgesamt besser werden, sagt sie. Zudem wäre es hilfreich, stünden mehr und umfassendere Informationen über mögliche Gasthochschulen zur Verfügung, und das niedrigschwellig und leicht abrufbar. Gibt es dort Wohnungen für Studierende mit Kind? Welche wohnungs- oder campusnahen Betreuungsmöglichkeiten existieren? Wie viel kosten sie Und wie bekommt man einen Platz? Wie sieht es mit einem Familienbüro an den Gasthochschulen aus? Gibt es diese und könnten sie Informationen bereitstellen und Unterstützung bieten? Das sind einige zentrale Fragen.

Jeannette Kratz wünscht sich in diesem Zusammenhang Hilfe von außen, da Hochschulen diese Informationsbeschaffung nicht allein bewältigen könnten. Geeignet wäre zum Beispiel eine europaweite Vernetzung aller Akteurinnen und Akteure, das heißt auch der Familienbüros von Hochschulen, gleich dem Netzwerk Familie in der Hochschule e. V. im deutschsprachigen Raum. Denkbar wäre ebenfalls, die Plattform InclusiveMobility.eu, auf der Hochschulen über ihre Beratungs- und Unterstützungsangebote informieren können, auf dieses Themenfeld auszuweiten, so wie das von der NA DAAD angeregt wird. Und außerdem? Vielleicht wäre es förderlich, Studierende mit eigener Familie, die in der Regel chronisch unter Zeitmangel leiden, meistens auf ihre Finanzen achten müssen und daher oft sehr fokussiert studieren, direkt auf ein Auslandssemester anzusprechen. «Hierzu ist die Vernetzung innerhalb der Universität, wie wir sie gerade in Dortmund ausbauen, so wichtig, damit diese Studierenden ermutigt werden, doch ein Auslandsstudium mit Kind oder Kindern zu planen.»

Wie erreicht man die Zielgruppen? Und wie groß sind sie?

Nach ein paar Minuten sind wir wieder im Büro von Silke Viol. Wir kommen auf die derzeitigen Herausforderungen für die Erasmus+ Arbeit in Dortmund zu sprechen, gerade im Hinblick auf Inklusion und Vielfalt. «Die Strukturen für eine individuelle Betreuung sind vorhanden. Sie greifen, wenn es konkrete Fälle bei Studierenden, Graduierten und Lehrenden gibt, die eine besondere Förderung benötigen», stellt Silke Viol fest. «Mit den neuen finanziellen Unterstützungsmöglichkeiten haben wir zusätzlich einen größeren Handlungsspielraum erhalten. Die Frage ist: Wie erreichen wir die entsprechenden Zielgruppen besser, bei uns in Dortmund beispielsweise Studierende aus nicht akademischem Haushalt oder berufstätige Studierende, wenn wir nicht nur die, die sowieso ins Ausland gehen wollen, mit einem höheren Stipendium ausstatten wollen?»

Das Beratungsangebot sei vielfältig und groß. Es reiche von Gesprächen – individuell vereinbart oder im Rahmen von offenen Sprechstunden, Präsenz oder online – über Mails bis hin zu Infoveranstaltungen, abrufbaren Aufzeichnungen solcher Veranstaltungen und Videos zu einzelnen Themen, zum Beispiel Studium im Ausland oder Auslandsaufenthalte für Englisch-Lehramtsstudierende. Laura Hope, mit der sie ja noch vor unserem Besuch gesprochen habe, sagt, dass speziell Videos sehr gut ankämen. Dadurch habe sich auch der individuelle Beratungsaufwand merklich reduziert. Tatsache sei aber ebenfalls, räumt Silke Viol ein, «dass wir nicht wissen, wie groß die potenziellen Zielgruppen wirklich sind. Die TU Dortmund erfasst nicht, wie viele Studierende mit Behinderung, chronischer Erkrankung oder Kind eingeschrieben sind. Genauso wenig wissen wir, wie viele nebenbei arbeiten oder aus einer nicht akademischen Familie stammen. Uns geht es da wie eigentlich allen deutschen Hochschulen oder zumindest den meisten.»

Eine neue Initiative für mehr Kooperation

Das heiße aber keineswegs, dass nichts geschehe. Ganz im Gegenteil, ergänzt Silke Viol. «Wir wollen diese Zielgruppen und noch eine weitere bei der Mobilität eher verhaltene Gruppe – die Lehramtsstudierenden – besser erreichen. Deshalb haben wir uns vom Referat Internationales mit DoBuS, der Stabsstelle Chancengleichheit, Familie und Vielfalt, den Talentscouts und dem Dortmunder Profil für inklusionsorientierte Lehrer/-innenbildung an der TU Dortmund zusammengesetzt, um nach Lösungen zu suchen und gleichzeitig das Thema ‹Auslandsaufenthalt› in den entsprechenden Einrichtungen präsenter zu platzieren.» 

Das erste Kick-off-Meeting in größerer Runde habe erfolgreich im Oktober 2022 stattgefunden und gezeigt, dass es immer wieder zu neuen Netzwerken inner- und auch außerhalb der Universität kommen müsse. Nur so können die Informationen letztendlich bei den richtigen Studierenden und Graduierten sowie dem Hochschulpersonal ankommen, um die Mobilität wirklich zu erhöhen. 

Das Bild zeigt Silke Viol, die stellvertretende Leiterin des Referates Internationales der TU Dortmund und Erasmus+ Hochschulkoordinatorin.
Silke Viol 
© Eric Lichtenscheidt/NA DAAD

Ein Appell

Bleibt ein unmittelbares Problem, das für die Wahrnehmung, das Gelingen und den weiteren Erfolg von Erasmus+ von großer Bedeutung ist: Die Zuwendungssumme für den Aufruf 2022 unterschreitet die beantragten Pro-Kopf-Mobilitäten für Studium und Praktikum. Das Geld reiche aufgrund der Organisation des Programms in Dortmund nicht für alle Studierenden, die schon einen Platz zugesichert bekommen hätten. Hier wünscht sich die langjährige Erasmus+ Hochschulkoordinatorin Abhilfe, damit die Anstrengungen der Hochschulen fruchten, die Mobilitäten insgesamt und vor allem von Personen mit geringen Chancen zu erhöhen. «Denn was nützen die finanziellen Aufstockungen, wenn gleichzeitig die Anzahl der geförderten Monate gedrosselt werden und man perspektivisch vielleicht einen Wettbewerb um den Mobilitätszuschuss einführen muss?»

Ich kann mich nur wiederholen: Erasmus ist und bleibt spannend.
Silke Viol
Kontakt:
Silke Viol
Technische Universität Dortmund

Die Incoming-Perspektive

Bild von Sebastian Diaz Darias an seinem Laptop an einem Stehtisch im Foyer eines TU-Gebäudes.
© Eric Lichtenscheidt/NA DAAD
Eine gute Organisation ist essenziell. Ich arbeite früh morgens, mache in Ruhe meine Arbeit und fahre dann an die Universität.
Sebastian Diaz Darias

Sebastian Diaz Darias studiert in Madrid. Im akademischen Jahr 2022/2023 ist er mit Erasmus+ an der TU Dortmund. In Madrid finanziert er sein Studium mit circa 30 Stunden wöchentlicher Arbeit und kann dies auch remote in Dortmund fortführen. Seine Erasmus+ Förderung beträgt 260 Euro. Weitere finanzielle Unterstützung wurde von seiner Heimatuniversität für das Auslandsstudium nicht angeboten.

Sie arbeiten während Ihres Aufenthalts an der TU Dortmund weiterhin. Wie lassen sich Studium und Arbeit vereinbaren?

Eine gute Organisation ist essenziell. Ich arbeite früh morgens, mache in Ruhe meine Arbeit und fahre dann an die Universität. Dabei hilft es, dass mein Arbeitgeber sehr flexibel ist. Und die akademische Viertelstunde eröffnet immer wieder etwas Spielraum.

Was sagen Sie zur finanziellen Aufstockung, die in Deutschland an erwerbstätige Studierende gezahlt wird, damit sie mit Erasmus+ ins Ausland gehen können?

Ich denke, es ist eine erstaunliche Idee, organisierte, hart arbeitende Menschen, die ein klares Ziel vor Augen haben, zu belohnen und zu motivieren. Das ist in meinen Augen eine gute Mittelverwendung, von der wir in anderen Ländern lernen können. Es ist auch wichtig, dass die Unternehmen die Studierenden unterstützen, wie es bei mir ist, sonst würde es natürlich nicht funktionieren.

«Just do it!» – Als blinder Student in Athen

Max Grote verbrachte das Sommersemester 2019 in Athen. Er kann nicht sehen und ist trotzdem nicht davor zurückgeschreckt, einen Auslandsaufenthalt zu absolvieren. Seine Empfehlung für alle Studierenden, die aufgrund ihrer Beeinträchtigung unsicher sind, ins Ausland zu gehen: «Just do it!»

Poträt des Studenten Max Grote, der blind ist
Max Grote 
© privat

Was hat Sie zu einem Auslandssemester bewogen?

In meinem Studiengang ist ein Auslandssemester verpflichtend. Das war also keine zusätzliche Hürde. Mir war bereits klar, dass ich im Verlauf des Studiums ins Ausland gehen möchte.

Studierende mit Behinderung und/oder chronischer Erkrankung gehen noch relativ selten ins Ausland. Wie würden Sie diesen Studierenden Mut machen, trotz ihrer Einschränkung im Ausland zu studieren?

Es gibt dabei so viel zu lernen, zu erfahren und zu entdecken, das wiegt keine Barriere auf. Vieles ist möglich, auch wenn man es für schwierig hält. Außerdem findet man überall Herausforderungen, selbst im eigenen Land, und es gibt viele Menschen, die einem auch gerne helfen. Und dann gibt es ja auch noch die Leute vom DoBuS, die mit Rat und Tat zur Seite stehen. Da läuft alles reibungslos. 

In Athen an der Uni hatte ich gleich zwei «Buddys» zugewiesen bekommen: eine sehende Mitstudentin aus meiner Fachrichtung, die mir viele Fragen beantworten konnte, und eine, die zwar etwas anderes studierte, aber wie ich blind ist und somit in allen spezifischeren Anliegen wusste, was geht.

Als Erstakademiker unterwegs

Mano-Raphael Barragan Penaranda studierte im Wintersemester 2021/2022 in Madrid. 

Die Aufnahme zeigt den Studenten Mano-Raphael Barragan Penaranda vor dem Eingangsbereich eines Gebäudes der TU Dortmund.
© Eric Lichtenscheidt/NA DAAD
O-Ton Mano Barragan

Sie haben sich vor der 2022 erfolgten Ausweitung der zusätzlichen Förderung für Studierende aus einem nicht akademischen Elternhaus für einen Auslandsaufenthalt mit Erasmus+ entschieden. Fiel Ihnen dieser Schritt schwer?

Die Entscheidung an sich fiel mir nicht sehr schwer! Ich hatte tolle Erfahrungsberichte von verschiedenen Seiten gehört, die mir alle ans Herz gelegt hatten, unbedingt einen Aufenthalt mit dem Programm zu machen. Dennoch war die Umsetzung eine Herausforderung. Bei vielen Dingen war ich mir unsicher. Doch Dank toller Beratung und viel Unterstützung vor allem von zu Hause hat alles sehr gut geklappt!

Was waren die aus Ihrer Sicht größten Hürden? Welche Unterstützung hätten Sie sich gewünscht?

Es gibt viele Hürden, die für jede*n unterschiedlich sein können. Eine Sache, über die sich alle Gedanken machen, ist die Wohnungssuche. Das ist ein echter Kraftakt! Hier wäre eine Art Anleitung zur Wohnungssuche sicherlich eine sehr sinnvolle Idee. Ein weiterer Punkt, der für viel Unsicherheit sorgt, ist die Angst, keine sozialen Kontakte knüpfen zu können. Eine bessere Vernetzung schon vor dem Aufenthalt fände ich sehr hilfreich!

Eine Sache, über die sich alle Gedanken machen, ist die Wohnungssuche.
Mano-Raphael Barragan Penaranda

Wie und auf welche Weise könnte Erasmus+ aus Ihrer Sicht mehr tun, um Studierenden aus einer nicht akademischen Familie einen Auslandsaufenthalt zu ermöglichen?

Vor allem den Studis klar zu machen, dass das Programm und Auslandsaufenthalte generell etwas für jeden sind. Die Unsicherheit vor der Bewerbung ist der Punkt, der angegangen werden muss. Einmal im Verfahren drin, merkt man schnell, dass man bei vielen Dingen Unterstützung bekommt. Auch mehr Infos zur erfolgreichen Bewerbung halte ich deshalb für sehr wichtig.

Talentscouting: Die Suche nach den Erstakademikern

Dr. Heidrun Olsen ist Leiterin der Abteilung Zentrale Studienberatung (ZSB) der TU Dortmund. Zu den Angeboten der ZSB gehört neben den Bereichen «Allgemeine Studienberatung», «Psychologische Studienberatung» und «Studieninformation» auch der Bereich «Talentscouting».

«Mit dem Talentscouting sollen gezielt Erstakademiker*innen erreicht werden. Dabei geht es auch um mögliche Hürden beim Gedanken ‹Auslandsaufenthalt›. Neben Fragen der Organisation und Finanzierung ist Ermutigung ein ganz zentrales Thema. Dem Format ‹Vorbilder berichten› kommt deshalb große Bedeutung zu, da der Mehrwert aus einem Auslandsaufenthalt – vor allem die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit – manchmal nicht direkt für Studierende greifbar ist und Hürden unüberwindbar scheinen. Wichtig ist zudem die kontinuierliche Begleitung.

Erasmus+ Stipendien sind neben anderen Stipendien eine sehr gute Finanzierungsmöglichkeit. Der Vorteil: Sie sind kombinierbar mit BAföG und dem Deutschlandstipendium. Die zusätzliche Aufstockung für Erstakademiker*innen ist zu begrüßen. Sie ist ein gutes Argument bei der Ansprache und die finanziellen Sorgen werden weniger.»

Finanzielle Aufstockung für Berufstätige

Marleen Döppner macht aktuell ein Erasmus+ Praktikum im Master bei der Stadt Wien.

Wie entscheidend ist die Sonderförderung für Ihren Auslandsaufenthalt?

Ich habe für das Auslandspraktikum meinen Job als Werkstudentin aufgeben müssen. Da mein Praktikum außerdem unbezahlt ist, stellt die zusätzliche Unterstützung eine super Chance dar, das Auslandssemester zu ermöglichen. Dadurch konnte ich die monatlichen Grundkosten (Miete, Bahntickets etc.) abdecken.

Was bedeutet der Erasmus+ Aufenthalt für Sie und Ihr Studium?

Während der Zeit im Ausland entwickelt man sich nicht nur akademisch, sondern auch kulturell und persönlich weiter. Das Auslandssemester eröffnet zudem die einmalige Gelegenheit, mit Menschen aus unterschiedlichen Kulturen zusammenzukommen und einen Bezug zu Europa insgesamt aufzubauen. 

Was schätzen Sie an der Sonderförderung? Sehen Sie gegebenenfalls Nachbesserungsbedarf?

Tatsächlich ist vielen Erasmus-Studierenden diese weitergehende Fördermöglichkeit nicht bekannt. Es wäre daher enorm wichtig, dieses Angebot noch mehr zu kommunizieren und bekannt zu machen, um noch vielen anderen Studierenden ein Auslandssemester zu ermöglichen.

Das Gruppenbild zeigt (von links) Jeannette Kratz vom Familien-Service der Stabsstelle Chancengleichheit, Familie und Vielfalt, Dr. Carsten Bender, den Leiter des Bereiches «Behinderung und Studium» (DoBuS), Laura Hope aus dem Referat Internationales sowie Silke Viol, die stellvertretende Leiterin des Referats Internationales der TU Dortmund und Erasmus+ Hochschulkoordinatorin.
© Eric Lichtenscheidt/NA DAAD

Networking

Zur Beratung von Studierenden, die an einer Auslandsmobilität zum Beispiel mit Erasmus+ interessiert sind, gibt es an der TU Dortmund ein umfassendes Angebot, an dem unterschiedliche Stellen beteiligt sind. Das Netzwerk umfasst das Referat Internationales, die Erasmus+ Fakultätskoordinierenden und verschiedene weitere Hochschuleinrichtungen, unter anderem den Bereich «Behinderung und Studium» im Zentrum für Hochschulbildung, die Stabsstelle Chancengleichheit, Familie und Vielfalt und das Studierendenwerk Dortmund. Seit Herbst gehört das Dortmunder Profil für inklusionsorientierte Lehrer/-innenbildung dazu, das im Rahmen der gemeinsamen Qualitätsoffensive Lehrerbildung von Bund und Ländern aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wird.

v. l.: Jeannette Kratz entwickelt und realisiert im Familien-Service der Stabsstelle Chancengleichheit, Familie und Vielfalt, Strategien für eine familiengerechte Hochschule

Dr. Carsten Bender leitet den Bereich «Behinderung und Studium» (DoBuS). Von Geburt an sehbehindert, studierte er 2006 mit einem Erasmus-Stipendium in Finnland. 

Laura Hope ist im Referat Internationales unter anderem für die Beratung zu Auslandsaufenthalten und die entsprechenden Informationsveranstaltungen verantwortlich. 

Silke Viol ist stellvertretende Leiterin des Referats Internationales der TU Dortmund und Erasmus+ Hochschulkoordinatorin.